Becca Brigg, Kripo Ravensburg - Band 1
von Karina Abrolatis
Die knochig wirkende junge Frau trug trotz der frostigen Februartemperaturen nicht mehr als ein dünnes Krankenhausnachthemd, das hinten weit offenstand. Bei jedem ihrer Schritte wehte es den mit starker Gänsehaut überzogenen nackten Rücken frei.
Das Mädchen aber spürte die winterkalte Erde unter ihren bloßen Füßen nicht länger. Auch die scharfkantigen Bucheckern mit ihren stachligen Hüllen, die den Waldboden übersäten und die sich jetzt unbarmherzig in ihre Fußsohlen bohrten, nahm sie nicht mehr wahr. Ihre körpereigenen Stresshormone hatten die Kontrolle vollständig übernommen. Der Puls hämmerte und das Blut rauschte laut in ihren Ohren. Adrenalin und Noradrenalin jagten im Wettstreit durch die Blutbahn. Alle nicht unmittelbar überlebenswichtigen Körperfunktionen waren ausgeblendet. Ihr geschwächter Organismus war dabei, die letzten Energiereserven zu mobilisieren.
Ihr Versuch, im Gehen den stabilen Verband von den Augen zu reißen, der sie völlig blind machte, scheiterte kläglich. Der stechende Schmerz, der durch das Zerren an der Binde verursacht wurde, drang kurz und scharf durch den Adrenalinpegel in ihre Wahrnehmung und nahm ihr vorübergehend den Atem.
Ein Eichelhäher stieß seinen Warnruf aus. Wasser plätscherte. Ein Bach? Verzweifelt lief Stella schneller, als gut für sie war. Mehrmals war sie bereits gestolpert und konnte sich gerade noch fangen, kurz davor auf den gefrorenen, harten Boden zu schlagen. Vor allem, kurz davor eingeholt zu werden. Laub raschelte unter ihren Füßen. Jegliche Sinne waren jetzt fest auf das Geräusch der bedrohlich nahenden Schritte hinter ihr fixiert und ließ sie jede Vorsicht vergessen. Der Abstand zwischen der Gejagten und dem Jäger verringerte sich jedoch seltsamerweise nicht, obwohl Stella, blind, wie sie durch den Verband war, nur langsam vorankam.
Die Person spielte mit ihr, genoss die Jagd und zögerte das Stellen des Wilds hinaus.
Wenige Minuten davor, als sie sich noch im Auto befanden, hatte Stella sich unendlich schwach und schwindelig gefühlt. Ihre Gedanken kreisten wild hinter dem pochenden Auge, dessen erbarmungslosen Schmerz sie sich nicht erklären konnte. Dieser Schmerz war in den letzten Tagen deutlich intensiver und tiefliegender geworden. Irgendetwas stimmte nicht. Absolut nicht. Der Druckverband saß fest um ihren Kopf und bedeckte beide Augen, obwohl nur eines davon tatsächlich operiert war. Die Erklärung des Arztes, dass der Heilungsprozess dies erforderte, hatte sich einleuchtend angehört. Augen funktionierten nun einmal paarweise.
Stella zermarterte sich den Kopf, zu wem die Hände gehörten, deren fordernde Berührungen auch jetzt noch auf ihrem Körper brannten. Einer der Ärzte? Wer war der Mann?Man erwarte Dankbarkeit von ihr, hatte er mehrmals mit drohendem Unterton gesagt. Dieselbe eindringliche Stimme befahl ihr in den letzten Wochen wiederholt, keinen Laut von sich zu geben, wenn sie den OP-Erfolg nicht gefährden wollte.
Stella war stumm geblieben. Tag für Tag. Obwohl der Ekel sowie die Angst, die seine Hände auf ihrem Körper verursachten, sie fast um den Verstand brachten. Es war der Preis, den sie zahlen musste, um wieder sehen zu können, redete sie sich wiederholt ein, um nicht völlig zu verzweifeln.
Sie wollte diesen Preis bezahlen, koste es, was es wolle, und ließ darum den Mann alles tun, was er verlangte. Nur wenn er zu grob wurde und ihr weh tat, wehrte sie sich halbherzig - genutzt hatte es nichts.
Wie viele Wochen waren vergangen, seit sie nach Deutschland gekommen war? In der immerwährenden Dunkelheit des Augenverbands war ihr jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. Die gedämpften Geräusche des Hauses, die sie gelegentlich in ihrem Zimmer hörte, gaben Stella keinerlei Tagesrhythmus.
Sie war brav gewesen. Ganz brav. Sie konnte sich mit dem Gedanken nicht abfinden, für den Rest ihres Lebens auf einem Auge blind zu sein. Und was, wenn mein zweites Auge ebenso erkrankt? Was dann? Ich bin noch so jung. Ich will sehen!
Das war es wert, alles zu ertragen.
Erneut versuchte sie, verzweifelt zu begreifen, wieso man sie vorhin in das Auto gezerrt hatte. Was war passiert? Sie hatte sich an sämtliche Anweisungen gehalten! Ich war still, wenn der Mann kam, und habe keinen Ton von mir gegeben. Ich habe mich dankbar gezeigt! Plötzlich veränderte sich der Fokus ihrer Gedanken.
Weshalb kann ich die Motorengeräusche des Autos nicht hören? Wir fahren doch! Ich müsste den Motor doch hören können! Eine mächtige Welle der Panik breitete sich in Stella, wie ein sich aufrollender Teppich aus und ließ ihre Gedanken immer konfuser und unlogischer werden. Ist mein Gehör durch irgendetwas geschädigt? Wohin fahren wir denn? Wenn ich doch nur die Worte verstehen könnte!
Es gelang Stella in der sich jetzt immer weiter ausbreitenden Panik nicht, einen der umherwirbelnden Gedanken festzuhalten und eingehender zu betrachten. Oder diese gar zu ordnen. Als das Fahrzeug abrupt stoppte, wurde sie auf das Armaturenbrett nach vorne geschleudert. Sie war nicht angeschnallt gewesen. Ihr Kopf prallte hart gegen die Windschutzscheibe. Dann schloss sich plötzlich ein brutaler Griff um ihren Oberarm und sie wurde vom Beifahrersitz nach draußen gezerrt. Die jäh erneut aufwallende Angst verdrängte jegliche Benommenheit aus Stellas Körper.
„Lauf, Dreckstück!“
Der anschließende Schubs in den Rücken, der ihr gegeben wurde, war roh. Stella entwich unwillkürlich ein jämmerliches Wimmern aus ihrer Kehle. Sie verstand kein Deutsch. Der verachtende, schneidende Tonfall war jedoch unmissverständlich international und ließ sie augenblicklich trotz ihrer Blindheit vorwärts stolpern. Nur weg. Weg von dieser eiskalten, erbarmungslosen Stimme. Weg von der Person, die sie hergebracht hatte. Ihr dünnes Nachthemd blieb an irgendetwas hängen. Ein Ast schrammte über den nackten Rücken. Mit einem verzweifelten Aufschluchzen riss sie sich los. Nur weiter. Weg von hier. Immer weiter, zog die Gedankenkette durch sie hindurch. Ihr Zeh stieß hart gegen einen größeren Stein. Der Schmerz indes erreichte ihr Gehirn, den ausgeschütteten Stresshormonen sei Dank, gnädigerweise nicht.
Weiter Stella, lauf weiter.
Unvermittelt prallten ihre ausgestreckten Hände auf kaltes Metall. Sie griff hektisch und tastend danach. Was war das? Ich muss weiter. Schnell! Ihre fiebrig tastenden Hände erkannten, dass die Metallstäbe, die vor ihr nach oben in die Höhe ragten, sich über ihre jetzt gestreckten Arme hinaus fortsetzten. Ein Hinüberklettern erschien unmöglich. Und als sie sich hektisch nach unten bückte, wurde Stella zu ihrem Entsetzen bewusst, dass ein darunter Durchkriechen ebenfalls nicht möglich sein würde. Sie versuchte es weiter rechts. Dann links. Vergeblich. Sie tastete sich an dem eisigen Metall entlang, obwohl ihrem Unterbewusstsein jetzt schon klar war, dass sie nicht mehr weiter kam.
Der Weg vor ihr war versperrt.
Unnatürlich laut dröhnte Stella Radu der eigene, stoßweise gehende Atem in den Ohren. Die Schritte des Jägers hinter ihr kamen jetzt sehr schnell näher. Zu schnell. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihr Körper schien völlig steif, wie paralysiert. Stumm betete Sie.
O Maria, ajută-mă!
Ein ohrenbetäubendes, animalisches Kreischen, das ihr den letzten Atem nahm, erhob sich direkt vor der jungen Frau. Oder war das Geräusch über ihr? Dann war der Wald plötzlich totenstill und nur das leise Gemurmel des schmalen Bachs erklang friedvoll zwischen den hohen Bäumen.
Der Schatten, der alles beobachtet hatte, stahl sich lautlos, weit oben in den Baumkronen davon.
Ein hohles, prasselndes Geräusch, eigentümlich unpassend, durchdrang Hauptkommissarin Becca Briggs fokussierte Wahrnehmung. Es hörte sich ähnlich einem heftig herabfallenden Starkregen an. Verursacht wurde es durch die Handvoll Erde, die sie nur sehr zögerlich fallen gelassen hatte, und die jetzt auf den dunklen Sarg in der Tiefe traf. Die Kommissarin hatte diesen Klumpen in ihrer Hand nicht loslassen wollen. Etwas in ihr hatte sich widerwillig dagegen gesträubt, die Faust, die die Erde fest umschloss, zu öffnen und das sauber polierte Holz des Sargs damit zu beschmutzen. Es fühlte sich an, als würde sie Dreck nach ihrer toten Schwester werfen.
Wie in Trance reihte sich Becca neben ihre Eltern und Aage ein, die als engste Angehörige seitlich am offenen Grab Spalier standen. Sie hatten unmittelbar vor ihr das rituelle Schauspiel mit der geworfenen Erde vollzogen, wie wenn sie tatsächlich in diesem Moment Abschied genommen hätten. In Wahrheit waren sie jedoch völlig unfähig, ihre wahren Gefühle im Augenblick überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Nach und nach würde jetzt die ganze Trauergemeinde diese althergebrachte Prozedur wiederholen. Stumm und allein begleitet von der prasselnden Musik der herabfallenden Erde.
Von Beileidsbekundungen am Grab war bitte abzusehen, so stand es in der Zeitungsanzeige des hiesigen SeeTageblatts vor ein paar Tagen:
Tatjana „Taja“ Jorgensen
Geboren am 30. März 1984
und für ewig von uns gegangen
am 17. Februar 2020
Gott spricht:
Ich lasse dich nicht fallen
und verlasse dich nicht (Josua 1.5b)
Gedruckt war die Anzeige in romantisch geschwungener kursiver Schreibschrift und daneben prangte ein Farbfoto ihrer glücklich lächelnden Schwester.
Wenigstens regnete es nicht an diesem ansonsten so trostlosen Tag. Der eisige Ostwind vom gestrigen Aschermittwoch hatte sich sanft zurückgezogen. Die kahlen Bäume mit ihrer dunkelfeuchten Rinde auf dem Friedhofsgelände in Becca Briggs Geburtsort Überlingen begleiteten stoisch das unter ihnen stattfindende Trauerspiel. Nur vereinzelt blitzte Zuversicht spendend ein Schneeglöckchen zwischen den unzähligen Gräbern auf.
Becca hatte ihren Blick starr auf die scharfe Abbruchkante der ausgehobenen Erdgrube direkt vor ihr gerichtet, so, als könne diese ihr irgendwelchen Halt geben.
Helga Brigg, ihre strenggläubig katholische Mutter, hatte stoisch auf eine Erdbestattung für ihre Tochter bestanden. Weder Becca selbst noch Tajas Ehemann Aage gelang es, ihr diesen Unsinn auszureden. Der Vater versuchte es aus Erfahrung erst gar nicht. Sie bemühten sich, mit unzähligen Argumenten ein Urnengrab im Friedwald oder im Kolumbarium zu favorisieren. Der agnostische Aage wohnte zudem viel zu weit weg, um sich dauerhaft um eine Grabstelle zu kümmern. Letztlich siegte der in Glaubensfragen ausgeprägte Wille ihrer Mutter, die sich unverzüglich dazu verpflichtete, die Grabpflege langfristig zu übernehmen. Becca blieb skeptisch. Mindestens zwei Jahrzehnte betrug die übliche Liegezeit für ein Erdgrab. Ihre Mutter wäre bei dessen Auflösung vierundneunzig Jahre alt. Sofern sie dieses stolze Alter überhaupt erreichen würde. Für Becca, die nur knappe zwanzig Kilometer entfernt der elterlichen Wohnung und des Überlinger Friedhofs lebte, war es unschwer zu erraten, wer sich im Falle einer fortschreitenden Gebrechlichkeit ihrer Mutter darum kümmern würde.
Die Gedanken der Kommissarin driften weiter in die Vergangenheit. Fort von den gefühlsleeren Augen der Mutter, die gramgebeugt, aber gnädig abgeschirmt durch die verschriebenen Beruhigungsmittel des Hausarztes, das Unfassbare über sich ergehen ließ. Und weg vom Vater, der mit sich rang, in militärisch starrer Haltung die Fassung zu bewahren, die er zeit seines Lebens durch eiserne Disziplin niemals verloren hatte.
Becca kam, wie sie so dastand und die Trauergemeinde langsam an ihnen vorüberzog, Schampus in den Sinn. Sie erinnerte sich, wie der ehemals schwanzwedelnde Teil der Familie Brigg jeden auf seine ganz eigene Art geliebt hatte. Insbesondere Taja, das Nesthäkchen, kam in den Genuss des ausgeprägten Beschützerinstinktes des Hundes. Der Bobtailrüde hatte die beiden Schwestern ein Hundeleben lang durch die Kindheit begleitet.
Nach seinem Tod wurde die Haltung von Haustieren laut Mietvertrag im Wohnkomplex generell verboten, was einen Nachfolge-Familienhund unglücklicherweise ausschloss. Unzählige Bilder flackerten an Beccas innerem Auge vorbei, wie der zottelige Hund mit seiner großen, himbeerrosafarbenen Zunge verbotenerweise über ihre zarten Mädchengesichter leckte. Sie und Taja kichernd, wie es nur zwei völlig unbeschwerten Kindern gelang. Der Bodensee bot im Sommer für Mensch und Tier vergnügliche Badefreuden. Wenn das untrennbare Dreigestirn das Wasser nach ausgiebigen Planschorgien verließ, schüttelte Schampus sein langes Fell trocken und spritzte dabei regelmäßig die Schwestern zu derer großen Heiterkeit nass. Soprane Mädchenstimmen quietschten lautstark zwischen bassartigem Bobtailgebell. Es waren unbeschwerte Kindertage.
Vater Erich Brigg, der seinem täglichen Dienst als Polizeiobermeister in der Dienststelle Überlingen nachging, wusste Wohnung und Kinder bestens durch seine patente Frau versorgt. Helga Brigg hatte nach der Hauswirtschaftsschule gar nicht erst angefangen zu arbeiten, sondern jung geheiratet und den Status der Ehefrau vorgezogen. Der in Polizeiuniform durchaus schmuck aussehende Erich, den sie im Überlinger Kursaal beim Tanz kennengelernt hatte, stellte mit seinem Beamtenstatus die Idealbesetzung für eine solide Familiengründung dar. Der fordernde Beruf ihres Mannes bedingte, neben dem positiven Effekt, gut versorgt zu sein, allerdings auch, dass Beccas Mutter meist anfallende Alltagsprobleme alleine lösen musste.
Die allgegenwärtigen Ängste, der Ehemann würde eines Tages nicht mehr lebend von einem Polizeieinsatz zurückkehren, trieben sie derweil immer tiefer in die tröstenden Arme der katholischen Kirche. So gab eine seit der Kindheit verwurzelte Religiosität Helga Brigg den nötigen Halt und die Kraft, die Ungewissheiten in ihrem Leben auszuhalten. Der eher ländlich geprägte Bodenseeraum rangierte zwar generell nicht im oberen Drittel der Kriminalstatistik, doch gelegentlich kam es auch hier zu lebensbedrohlichen Gewaltanwendungen im kriminellen Milieu und im Zuge dessen zu schwerverletzten Polizeibeamten. Lebte Beccas Vater in seinen Dienstjahren bereits mit einem gewissen Berufsrisiko, so hatte seine älteste Tochter heutzutage als Hauptkommissarin bei der Kripo in Ravensburg einen offenkundig noch gefährlicheren Job inne. Dies lag zum Teil in der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft, aber auch im andauernden Personalmangel begründet.
Becca und Taja erlebten indes ihre Kindheit völlig sorgenfrei und bekamen von alldem nichts mit. Die nicht berufstätige Mutter war stets für sie da. Ein Fels in der Brandung des Lebens. Und Erich Brigg erfuhr durch seine Töchter die Art von Heldenverehrung, die sonst nur denen zuteilwurde, die das ultimative Böse in der Welt bekämpften. Er jagte die Gesetzlosen und kümmerte sich um die Schwachen der Gesellschaft. So befand er sich in den verehrenden Augen seiner Töchter auf direktem Level mit Robin Hood und Superman.
Das Verhältnis der beiden Schwestern war beständig eng und innig. Damals wie heute.
Becca, immerhin zehn Jahre älter, fungierte mehr als eine mitverantwortliche Erziehungsberechtigte denn gleichwertige Schwester. Sie erlebte mit ihrem großen Altersvorsprung bewusst die Geburt der kleinen Nachzüglerin mit. Und auch das damit verbundene tiefe Glück der Eltern über den verspäteten Segen. Becca begleitete Tajas Einschulung, den späteren Wechsel auf die höhere Schule und schließlich das einschneidende Ereignis von Tajas erster großer Liebe: ein pupertätspickelgesichtiger Siebzehnjähriger mit blauem Moped und cooler Frisur im Fringe-Style. Nach ein paar wenigen Monaten war der junge Draufgänger bereits mit einer anderen großen Liebe beschäftigt und Becca tröstete das Nesthäkchen bei ihrem ersten Liebeskummer.
Taja entwickelte sich charakterlich völlig anders als Becca, die schon im Kindesalter dazu neigte, eher regelkonform zu handeln. Auch ließ die Kommissarin in der Grundschule bereits Ehrgeiz erkennen und fuhr durchaus, wenn nötig, die Ellenbogen gegen Mitschüler aus. Nicht von ungefähr stieg sie nach Abschluss des Gymnasiums in die Fußstapfen des verehrten Vaters und schlug die höhere Polizeilaufbahn ein.
Taja hingegen war auf eine oberflächlich heitere Art gedankenlos lebenslustig. Bis auf einen heimlich gerauchten Joint im Teenageralter entgleiste ihr antikonservativer, leicht rebellischer Charakter dann glücklicherweise aber nicht. Sie hatte rundweg Spaß am Leben und nahm die Dinge the easy way, wie sie gern betonte. Taja war eine Sympathieerscheinung, die ihre unmittelbare Umgebung im Handumdrehen mit Leichtigkeit bezauberte.
Papas Prinzessin. Sein Augenstern. Für Becca ein Spagat, die Verdrängung in die zweite Reihe durch ihre jüngere Schwester nicht übel zu nehmen. Eines Tages jedoch wurde der vergötterte Vater letztlich von seiner Prinzessin durch die Heirat mit Aage stillschweigend abgesetzt. Der blonde Hüne mit dem Wikingeraussehen trug Taja von da ab auf seinen riesigen Händen durchs Leben. Liebevoll entführte er Beccas Schwester in seine Heimat nach Glücksburg an der Ostsee. Hoch, bis fast an die dänische Grenze.
Doch der verheißungsvolle Ortsname sollte dem Paar nicht das bringen, was er versprach.
Über tausend Kilometer von den heimischen Gefilden im Bodenseekreis entfernt, bauten die beiden Verliebten Aages reetgedeckten Hof um. Ein Erbstück seiner früh verstorbenen Eltern. Ein schmuckes Fachwerkhaus mit nicht wenigen Hektar saftiger Wiesen drum herum. Immer eine Brise Ostseewind in der Nase, vermischt mit dem allgegenwärtigen Salzgeruch des nahen Meeres. Sie brauchten einige Jahre, um unter anderem aus dem alten Gemäuer ein hochmodernes Büro für Aage herauszuschälen. Als erfolgreicher IT-Spezialist zählte er zu den Besserverdienern, die vom Homeoffice aus ihre Brötchen verdienen konnten. Das junge Paar richtete ein großzügiges Wohnzimmer mit offener Küche und Kamin ein. Auf Tajas Wunsch hin ebenso zwei separate Kinderzimmer, schon mit lustigen Comic-Motiv-Tapeten verheißungsvoll geschmückt. Sie plante, ihre Anstellung als chemisch-technische Assistentin auf halbtags zu reduzieren, sobald sich der sehnliche Wunsch nach eigenen Kindern erfüllen würde. Inzwischen über dreißig Jahre alt, tickte die biologische Uhr diesbezüglich.
Die lange Schlange der Abschiednehmenden am blumengeschmückten Grab, so kam es Becca Brigg jedenfalls vor, wollte kein Ende nehmen. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit jetzt erneut der Zeremonie zugewendet und erkannte einige ehemalige Schulfreunde von Taja wieder. Nachbarn bekundeten ihre Solidarität mit ihrer Anwesenheit und entfernt bekannte Gesichter zogen vorüber. Auch frühere Polizeikollegen ihres Vaters befanden sich unter der Trauergemeinde. Es war eine unbeschreibliche Tragödie, das eigene Kind bestatten zu müssen, die im gesellschaftlichen Leben Überlingens sehr viel Mitgefühl hervorrief. Es schien, als wäre die halbe Stadt zum Friedhof gekommen, um ihre Anteilnahme zu bekunden.
Erneut schlug eine Handvoll Erde prasselnd auf den Sarg, diesmal begleitet von einer einzelnen, roten Blume. Allmählich drang die Kälte zu Becca durch. Der trübe, Hochnebel verhangene Himmel über ihnen wurde dem trostlosen Anlass gerecht.
Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen. (Josua 1.5b)
Bei dem Gedanken an den Anzeigentext im SeeTageblatt, den ihre Eltern zusammen mit Aage ausgesucht hatten, durchzog Becca jäh eine Woge der Bitterkeit. Tja Josua, wer immer du gewesen bist: Ich glaube dir nicht! Diese hier, verdammt nochmal, hat dein Gott eindeutig fallen gelassen!
Schnell blickte die Kommissarin auf Grund dieser gotteslästerlichen Sätze zu dem erstarrten Gesicht von Helga Brigg hin. Es schien, als müsste sie sich vergewissern, dass die Mutter ihre häretischen Gedanken nicht zu lesen vermochte. Mütter waren bekanntlich eine Spezies für sich, denen war alles zuzutrauen. Langsam kroch zudem die Wut wieder in ihr empor und verschaffte sich Raum. Dieses Gefühl, das den dumpfen Schmerz der verbitterten Trauer rasch verdrängte, erschien der Kommissarin deutlich besser ertragbar. Wut hatte sie im Griff. Die war beherrschbar. Es ging dabei letztlich nicht nur um die ungerechte Tatsache, dass Taja vor ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag diese Welt hatte verlassen müssen, nein, es drehte sich vor allem auch um das Wie.
Zu dem Zeitpunkt, da sie alle fest daran geglaubt hatten, sie würde diesen verdammten Krebs besiegen, schlug dieser erneut mit voller Wucht zu. Tajas einst so lebhaft wippenden, blonden Locken hatten nicht einmal die Zeit gefunden, vollständig nachzuwachsen. Die letzten Wochen waren grauenvoll mit anzusehen. Wie sie immer weniger wurde. Ihre einstmals so helllodernde Flamme begann unaufhörlich zu verlöschen. Taja war bis auf das Skelett abgemagert. Das früher so hübsche Gesicht, ein mit gräulicher Haut überspannter Schädelknochen. Zwei übergroß wirkende, verzweifelte Augen darin, die stumm darum flehten, weiter leben zu dürfen.
Unzählige Tote waren der erfahrenen Kriminalbeamtin Becca Brigg im Laufe ihrer Dienstjahre begegnet. Leichen, die auf alle erdenklichen Arten ums Leben gekommen waren. Ihre zum Teil ausgeprägten körperlichen Entstellungen verliehen diesen Toten mitunter die Aura eines entsprungenen Protagonisten aus Saurons Armee der Herr der Ringe Trilogie. Dazu gesellte sich meist ein Verwesungsgeruch, der jede menschliche Ähnlichkeit heftig leugnete.
Ja, Hauptkommissarin Brigg verfügte über einen professionell abgehärteten Schutzpanzer im Umgang mit Verstorbenen. Jedoch waren diese Menschen bereits tot. Nichts vermochte diese Tatsache mehr zu ändern. Die Rechtsmedizin, sowie die Kriminologen, begutachteten fachgerecht distanziert und wissenschaftlich ihre seelenleeren Körperhüllen. Stets darum bemüht, die Verantwortlichen des frühzeitigen Ablebens eines Opfers zur Rechenschaft zu ziehen. Das war der einzige Dienst, den man ihnen und ihren Angehörigen noch zu erweisen vermochte.
Nichts von alldem hatte die Hauptkommissarin darauf vorbereitet, ohnmächtig einem über viele Wochen andauernden Sterbeprozess einer geliebten Person beiwohnen zu müssen. Denn dieser, noch um sein Leben ringende Mensch, atmete. Das war eine völlig andere Hausnummer. KHK Brigg stürzte sich im Präsidium blindlings in ihre Arbeit; übernahm freiwillig Dienste und absolvierte Überstunden bis zur absoluten Erschöpfung. Dennoch erlebte sie hilflos, wie Vater und Mutter Brigg gleichermaßen Stück für Stück mit der sterbenden Schwester aufhörten zu leben. Es war ihr ebenso unmöglich, der zunehmenden Verzweiflung Aages auszuweichen, der unfähig schien, seinen Tränenfluss zu beherrschen. Der körperlich riesenhaft erscheinende Mann weinte unaufhörlich wie ein kleines Kind. Heute standen die von Trauer und Schmerz ausgehöhlten Hüllen ihrer selbst neben dem offenen Grab.
Ja, bei Gott, die Kommissarin gäbe etwas darum, irgendeinen Schuldigen für diesen grausamen, sinnlosen Tod ihrer kleinen Schwester zur Rechenschaft ziehen zu können.
Endlich war der letzte Kondolierende an ihnen vorbeigegangen. Helga Brigg, behütet untergehakt zwischen Beccas Vater und dem katholischen Stadtpfarrer, ein sympathisch wirkender Mann, ließ sich mit gesenktem Haupt in Richtung Friedhofsparkplatz führen.
Becca stand für Sekunden alleine mit Aage am offenen Grab.
Das war`s dann also. Das war alles. Mehr bleibt nicht.
Sie wartete auf die Tränen, die nicht kommen wollten.
Wo bist du jetzt, Taja?
Wie tröstlich musste der Gedanke sein, dachte sie, dass ein gütig liebender Gott sich ihrer angenommen hatte. Es gab Augenblicke, da beneidete Becca Brigg die Mutter um ihren festen Glauben.
Dies war so ein Moment.
Für einen Bruchteil von Sekunden berührte der neben ihr stehende Aage ihre Hand und sah auf sie herunter. Als ihre Blicke sich trafen, wirkten seine wässrig hellblauen Augen, die von weißblonden Brauen umrahmt waren, wie zwei über die Ufer tretende Seen. Eine unendliche Traurigkeit und Hilflosigkeit lag darin.
Sie schickten einen letzten stummen Gruß zu dem tiefen Loch in der Erde, dann liefen sie bedächtig hinter den Anderen her. Die Feuchtigkeit des Hochnebels tropfte aus Beccas dunklen, kurzen Haaren auf den schwarzen, aufgestellten Mantelkragen.
Eine kleine Schar Trauergäste war zum Leichenschmaus in das an der Überlinger Seepromenade gelegene traditionsreiche Gasthaus zum Felchen geladen. Während so manche touristisch geprägte Gastronomie am Seeufer in den Wintermonaten geschlossen blieb, war das Felchen auch in der kalten Jahreszeit ein geselliger Treffpunkt für Alteingesessene. Erst gestern hatten in diesen Räumlichkeiten die badisch-alemannischen Narren den Aschermittwoch bei einem sauren Hering mit Bratkartoffeln oder Schnecken in Kräuterbutter, ausklingen lassen. Ein paar wenige bunte Luftschlangen hingen immer noch verloren in der Gaststube herum. Stille Zeugen des närrischen Treibens der vergangenen Woche.
„Oh Becca, mein Schatz. Wie furchtbar, dass wir das miterleben müssen.“ Tante Hedwig krallte sich in den Oberarm der Kommissarin. Für ihre einundneunzig Jahre hatte die ältere Schwester von Erich Brigg erstaunlich viel Kraft in den Fingern. Ihre kleinen, immer ein wenig schelmisch wirkenden runden Augen, schauten Becca dabei mitfühlend durch die dicken Brillengläser an. „Dein Onkel Karl hat auch so schrecklich leiden müssen, bevor er starb. Gott hab ihn selig. Du meine Güte, ist das jetzt schon elf Jahre her?“ Tante Hedwig schüttelte ungläubig die schlohweißen Locken. „Wie geht es dir denn? Hast du wieder einen Freund? Du bist nun seit zwei Jahren allein!“, fuhr sie in unterschwellig vorwurfsvollem Ton fort. „Seitdem dieser spanische Casanova glücklicherweise abgehauen ist. Der hat sowieso nicht zu dir gepasst, wenn du mich fragst. Es gibt so viele nette junge Männer hier im Land. Du solltest wirklich bald mal heiraten Becca, weißt du? Andere Frauen in deinem Alter haben schon erwachsene Kinder. Deine Gotte Margot hat früher immer gesagt, je älter die Frucht, desto süßer das Ergebnis.“
Ein Schwall gut gemeinter Lebensweisheiten aus dem Mund der ebenfalls kinderlosen Tante Hedwig ergoss sich in Beccas Ohr. Die Kommissarin bemühte sich redlich, höflich und aufmerksam zu erscheinen, obwohl sie weiterhin komplett neben sich stand. Überfallartig sehnte sich Becca danach, die Haustür ihrer Wohnung in Wittenhofen im Deggenhausertal hinter sich zu schließen. Die Vorstellung, auf ihr heimeliges Ecksofa zu fallen und ein, oder am besten gleich zwei Gläser dunkelroten Rioja Reserva zu trinken, hatte etwas unwiderstehlich Verlockendes. Kein weiterer Austausch höflicher Floskeln, kein Sich-zusammenreißen-Müssen, kein mühseliger Smalltalk.
Aage würde für einige Tage im Gästezimmer bei ihren Eltern in Überlingen schlafen. Es gab immer noch ein paar formale Dinge nach Tajas Tod zu regeln, und die weite Rückfahrt an die Ostsee erforderte eine stabile Konstitution, über die der Schwager im Moment nicht verfügte. Becca war erleichtert, dass sie durch diesen Umstand von der Pflicht, sich intensiver um die trauernden Eltern zu kümmern, einstweilen enthoben war.
Morgen Früh würde sie ins Präsidium fahren. Zehn Tage Schichtdienst lagen vor ihr. Es war ihr allerdings nicht klar, wie sie das bewältigen sollte. Aber zu Hause sitzen und sich dem Schmerz überlassen, das war das Letzte, was momentan in Frage kam. Dennoch, aktuell fühlte sich die Kommissarin wie von einer Dampfwalze überfahren.
Der Kaffee im Felchen schmeckte eigentümlich nach Pappe und der Kuchen nach überhaupt nichts. Das lebendige Stimmengewirr der Trauergesellschaft hörte sich wie aus einer anderen Welt an. Aage starrte bleich auf seinen Teller. Das Stück Käsekuchen darauf hatte er nicht angerührt. Seine Schwiegermutter, Helga Brigg saß direkt neben dem Schwiegersohn und umklammerte seit geraumer Zeit die Kuchengabel, ohne diese zu benutzen.
Lediglich Erich Brigg, der Überlinger Polizeiobermeister a.D., ertrug die Geselligkeit mit disziplinierter Haltung. Er hielt dabei eine halbvolle Flasche Bodenseeobstler und zwei gut gefüllte Schnapsgläser in der Hand.
- Die Fortsetzung finden Sie im Buch "Blinder Tod".
© Karina Abrolatis – alle Rechte vorbehalten.
2. Auflage, Erstveröffentlichung Taschenbuch 09.06.23
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