Becca Brigg, Kripo Ravensburg - Band 3
von Karina Abrolatis
Simon Kralke griff zielstrebig nach der Klatsche, die neben ihm auf dem Terrassentisch lag, und zerquetschte mit einem kräftigen Schlag die Schmeißfliege, die sich just in diesem Moment auf dem
Wachstischtuch niedergelassen hatte. Angeekelt betrachtete er den grünlich schillernden Hinterleib des Tieres, aus dem sich nun eine zähe gelbe Masse ergoss. Eines der behaarten angewinkelten
Beinchen zuckte noch, als er das tote Insekt kurzerhand vom Tisch pustete.
Dann fuhr er sich mit allen fünf Fingern durch sein ergrautes Haar und gähnte herzhaft. Der Tag konnte beginnen, stellte er selbstzufrieden fest.
Herr Kralke hatte die längste Zeit seines Lebens in der Doppelhaushälfte verbracht, auf deren Terrasse er momentan saß. Wenn die Temperaturen im Frühjahr über die siebzehn Grad kletterten, fand
sein Dasein nahezu gänzlich im Garten statt. Ganz so, als würden die festen Wurzeln, die er hier selbst geschlagen hatte, sich im frischen Grün wohler fühlen als drinnen in der Stube. Mit einer
molligen Strickjacke bekleidet ließ er sich meist schon gegen 8.00 Uhr morgens das Marmeladenbrot und den Becher Kaffee am Terrassentisch schmecken. Eine schlichte, in die Jahre gekommene
Überdachung schützte ihn dabei vor gelegentlichen Regentropfen.
Deisendorf mit seinen rund 730 Einwohnern, in dem Simons Eigenheim stand, gehörte zur Kreisstadt Überlingen am Bodensee. Geschätzte drei Kilometer vom Bodenseeufer entfernt ließ es sich in dem
überschaubaren Örtchen gefällig leben. Die Einwohnerzahl hatte sich in den letzten fünf Jahrzehnten nahezu verdreifacht. Die Gemeinde im Landstrich Linzgau, erstmalig im Jahr 927 als Tytzendorf
urkundlich erwähnt, bestand heutzutage vorwiegend aus Einfamilienhäusern, zumindest in den Neubauvierteln, die den historischen Dorfkern umrahmten.
Hier war ein Menschenschlag verwurzelt, zu dem auch Simon Kralke zählte, der seit Generationen den Ort seine Heimat nannte und der in Harmonie mit den sogenannten Neigschmeckte, wie man
zugereiste Neubürger im badischen Dialekt gerne titulierte, lebte.
Meistens zumindest.
Für die Bürger des Dorfes stand ein Kindergarten, ein nicht ständig besetztes Rathaus sowie ein Feuerwehrhaus parat. Ein altes Schulhaus von anno dazumal musste als Dorfgemeinschaftshaus
herhalten, doch platzte dies inzwischen aus allen Nähten und war seinen Aufgaben durch die enorme Menge an Zugezogenen schon längst nicht mehr gewachsen. Der Speckgürtel Überlingens galt ohne
Zweifel als attraktive Siedlungsfläche.
Weitläufige Äcker, Wiesen und Wälder ringsherum, individuelle Hausgärten, mancherlei Nutztiere sowie ein paar wenige Landwirtschaftshöfe vervollständigten das ländliche Paradies. Wenn man
Glück hatte oder auch Pech, je nachdem, welchen Blickwinkel man einnahm, konnten die Bewohner dieses provinziellen Idylls einen Hahn in den Morgenstunden krähen hören.
Der Ort, frei von Durchgangsverkehr ansonsten ein Refugium der Stille, wurde leise plätschernd vom schmalen Riedbach durchzogen. Streng bewacht von einer Nepomukstatue, deren Namensgeber,
Johannes von Nepomuk, im vierzehnten Jahrhundert von der Karlsbrücke in Prag gewaltsam in die Moldau gestürzt und ertränkt worden war. Beeindruckendere Horrorgeschichten hatte das absolut
friedvolle Deisendorf nicht zu bieten.
Jetzt, direkt im Anschluss an sein Outdoor-Frühstück, sah Herr Kralke, wie üblich, im Garten nach dem Rechten. Und zwar gründlich. Das schmutzige Geschirr auf dem Tisch war geduldig, das würde er
später hineintragen. Meist waren die Essenreste, bis er dazu kam, dann dermaßen angetrocknet, dass er das Gröbste zunächst geräuschvoll mit dem Messer vom Porzellan abkratzen musste. Die Spatzen
freuten sich regelmäßig über die krümelige Beute. Irgendwie schaffte es Simon nicht, sich zu überwinden, alles sofort reinzubringen. Es wäre schlicht zu schmerzhaft, denn so hatte seine Marga es
einst immer gemacht.
Unwiderstehlich zog es den Senior nach dem letzten Schluck Kaffee in die Beete. Die Kartoffeln wollten nach gelbschwarzgestreiften Käfern abgesucht werden, und wenn er jemals etwas von seinen
zarten Salatpflänzchen ernten wollte, würde er nach Schnecken Ausschau halten müssen. Die schleimigen Weichtiere warf er in hohem Bogen über die Grundstücksgrenze auf die Wiese hinterm Haus. Wohl
wissend, dass diese am nächsten Tag zurück gekrochen kamen, sofern die Laufenten von schräg gegenüber sie nicht vorher erwischten.
Die Kartoffelkäfer mutierten in seiner Wahrnehmung allerdings zu einer ganz anderen Hausnummer. Die fressgierigen Biester zertrat er mit dem verächtlichsten Gesichtsausdruck, dessen er fähig war.
Denn das Ungeziefer kannte hierzulande keine natürlichen Fressfeinde und erfreute sich daher einer überproportionalen Vermehrung. Ihrer Zerstörungswut bezüglich des grünen Kartoffelkrauts waren
kaum Grenzen gesetzt.
Und ohne Kraut keine Kartoffeln.
Mit dem Schiff Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus dem amerikanischen Colorado als blinder Passagier eingewandert, hatte sich das Insekt zügig zur Plage entwickelt. Im Zweiten Weltkrieg
züchtete die deutsche Wehrmacht das gefräßige Getier in enormen Mengen und warf sie über der Pfalz bei Speyer aus Fliegern ab, um ihre Eignung als biologische Waffe zu testen. Das sagte neben der
erbärmlichen Bösartigkeit der Nationalsozialisten, die eigene hungernde Bevölkerung mitten im Krieg als Versuchskarnickel zu missbrauchen, einiges über die Schädlinge aus.
Ganz egal ob sechsbeinig oder zweibeinig.
Eine komplette Handvoll sammelte Simon heute ab.
»Mein lieber Scholli! Eine ordentliche Ausbeute«, lautete sein gemurmelter, hochzufriedener Kommentar dazu.
Die tägliche Gartenarbeit hielt Simon Kralke körperlich fit, und sich zu bücken, funktionierte immer noch ganz passabel. Immerhin hatte er die vierundsiebzig Jahre überschritten. Marga, seine
Frau, hatte ihn früh verlassen. Eine Embolie, die niemand kommen sah und die ihn von heute auf Morgen um einen harmonischen Lebensabend zu zweit betrogen hatte.
Irgendwie schaffte er es, weiterzumachen, doch aus dem sozialen Dorfleben hatte sich der Witwer zwischenzeitlich vollständig zurückgezogen. Seine einstigen Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr
sowie der hiesige Musikverein mussten ohne ihn auskommen. Simon Kralke blieb lieber für sich, verbittert über den plötzlichen Tod der Ehefrau. Die Hege und Pflege seines kleinen Grundstücks
eroberte nach und nach den zentralen Platz in seinem Leben, den einst Marga innegehabt hatte.
Es war nicht so, dass ihm seine Abgeschiedenheit geschenkt worden wäre. Nein, er hatte sich diese regelrecht erkämpfen müssen. Zusammenhalt galt im Dorf noch als Selbstverständlichkeit. Einmal in
die Dorfgemeinschaft integriert, war es schwierig, sich davonzustehlen. Man kümmerte sich umeinander, geringstenfalls um den angrenzenden Nachbarn. Dass Simon inzwischen lieber ohne Gesellschaft
blieb, wurde leidlich respektiert. Wenn trotz der ablehnenden Signale, die er aussandte, jemand zu Besuch kam, gab er sich bis zur Grenze der Unhöflichkeit wortkarg.
Und dann spielte ihm das Schicksal in die Hände, als die Coronapandemie um die Ecke bog. Für Simon eine glückliche Fügung, denn durch die zwangsweise monatelange Isolation hatten selbst die
besonders Hartnäckigen von ihren gelegentlichen Besuchen abgesehen. Der Spuk um das Virus war zwischenzeitlich zwar abgeflaut, gänzlich vorüber war es jedoch nicht. In vorigen Winter, vor sechs
Monaten, wurde das rasant entwickelte Vakzin gegen das Covid-19-Virus weltweit auf den Pharmamarkt geschleudert. Die Impfpriorisierung in Deutschland, die erst vor wenigen Tagen aufgehoben wurde,
hatte den systemrelevanten Berufsgruppen wie medizinischem Personal, Polizisten, aber beispielsweise auch Risikopatienten gegolten.
In diesem Frühsommer war es endlich so weit, dass sich jedermann den neuartigen Impfstoff abholen konnte, der in seiner Herstellungsbeschreibung für Laien klang, als hätten die Pharmariesen das
Wissen einer hochentwickelten Spezies aus dem Weltraum angezapft. Von Messenger-RNA, Nukleotiden, Informationsträgern und intrazellulären Bausteinen war allerorts die Rede. Vielleicht steckte
auch der spitzohrige Vulkanier Mr. Spock hinter all dem wissenschaftlich futuristisch Faszinierenden, wer wusste das schon so genau, mutmaßte so mancher hinter vorgehaltener Hand belustigt.
Anderen standen derweil vor Abscheu die Haare zu Berge. Ob der Impfstoff tatsächlich der ersehnte Heilsbringer gegen die weltweite Seuche sein würde, stand auf jeden Fall aktuell noch völlig in
den Sternen.
Es ging beschaulich zu auf dem Land und es ließ sich trotz des ganzen Ungemachs der Pandemiefolgen dort prächtig leben. Auf jeden Fall um Welten besser als in einer Hochhaussiedlung, darin war
man sich hier einig.
Simons weißgetünchtes Doppelhaus lag in einer winzigen Sackgasse, die vom langgezogenen Andelshofer Weg abzweigte. Die Silberfischgasse, benannt nach dem schmucken Wappen Deisendorfs, sollte, nur
etwa 250 Meter von der Landstraße nach Überlingen entfernt, ursprünglich den Anfang für ein Neubaugebiet bilden. Doch dass dieses Areal jemals weiter bebaut würde, daran glaubte hier im Dorf
schon lange niemand mehr, denn nach der Errichtung besagter Doppelhaushälfte sowie des freistehenden Hauses einer Tierärztin direkt nebenan war das Projekt Neue Siedlung Deisendorf zum Stillstand
gekommen. Weshalb, das wusste keiner so recht, doch es wurde gemunkelt, dass das Bauamt seine Genehmigung damals urplötzlich revidiert habe. Das war nun über 20 Jahre her, und inzwischen waren an
anderen Stellen der Gemeinde neue Viertel erschlossen worden. Lediglich hier in der Silberfischgasse war es bei den zwei einzelnen Bauten geblieben.
Im Dorf kannte man sich untereinander, und Fremde fielen meist auf. Vor allem seitdem es kein Gasthaus mehr gab und eine größere Pension am Ortsrand sich in eine Flüchtlingsunterkunft verwandelt
hatte. Manchmal sah Simon, wenn er um die Hausecke lugte, versteckt durch die Sträucher seines Gartens zur Straße hin, einen der Haustierbesitzer bei seiner nächsten Nachbarin, der Tierärztin,
vorfahren. Diese zählten zu den wenigen unbekannten Menschen, die sich im Dorf allgemeinhin blicken ließen. Die Praxis hatte werktags bis siebzehn Uhr geöffnet und es herrschte unter der Woche
ein reges Kommen und Gehen von Struppi, Lumpi, Bello und Miez, oder wie sie alle hießen.
Das störte Simon Kralke jedoch kaum, denn er nannte die hintere Doppelhaushälfte sein Eigen und blickte somit hauptsächlich auf die menschenleere rückwärtige Rasenfläche der Tierärztin statt auf
deren Schotter-Parkplätze vorm Haus. Im Anschluss an sein Grundstück schloss sich unbebaute Wiese an. Diese blühte im Frühjahr und Sommer mit den für den Bodenseekreis typischen Wiesenblumen
prächtig auf. Das Blau der Kornblumen mischte sich mit rotem Klatschmohn und die eine oder andere Margerite schaffte es, einen weißen Klecks ins Grün zu zaubern. Wiesenschaumkraut im Blasslilaton
durchzog filigran die Gräserhalme. Die nächsten sichtbaren Gebäude hinter Simons Doppelhaushälfte lagen gute zweihundert Meter im Sandbühl entfernt.
Manchmal grasten Rinder oder Pferde auf der großzügigen Weide dazwischen und erfreuten sich am üppig sprießenden Rotklee. Simon liebte den Anblick der grasenden Huftiere, die eine stoische Ruhe
verbreiteten, und ihn kümmerten die Fliegen nicht, die zwangsläufig dadurch zunahmen. So war das eben auf dem Land. Wer sich daran störte, der sollte doch in die Stadt ziehen, befand er. Simon
hatte immer eine Klatsche am Esstisch paratliegen, und wenn es ihm zu bunt wurde, haute er schon mal drauf. Manchmal mitten auf den Essteller, dass es nur so klirrte. Es brachte zugegebenermaßen
nicht viel, aber es befriedigte für den Moment.
Der Rentner genoss die Abgeschiedenheit in seinem Garten. Almuth Henke, die sich in der Doppelhaushälfte neben ihm in erster Reihe direkt an die Straße anschloss, ließ sich äußerst selten in
ihrem Gartenstück blicken, das dementsprechend verwildert aussah. Doch wenn, winkte sie wortlos einen Gruß zu ihm herüber, nur um zügig wieder in den eigenen vier Wänden zu verschwinden. Almuth
pflegte ein eingefleischtes Singledasein und arbeitete als Kundenbetreuerin in irgendeinem Großunternehmen, wie Simon wusste. Sie hatte den lieben langen Tag im Homeoffice das Headset auf dem
Kopf. Genaugenommen war es gar keine richtige Nachbarschaft, sie wohnten lediglich nebeneinander. Eine Seltenheit im Dorf. Man grüßte sich, mehr aber nicht. Ein Umstand der Simon Kralke jedoch
sehr recht war. Marga hatte regelmäßigen Kontakt zu Almuth gepflegt, doch ihm lag nichts daran. Er ließ die anderen in Ruhe und sie im Gegenzug ihn.
Zumindest theoretisch.
Denn mit Daggi Wolf, der Tierärztin auf der anderen Seite seines Hauses, war das keineswegs so simpel. Die Veterinärin galt als eine Seele von Mensch, nicht nur gegenüber ihren Tieren. Sie
engagierte sich ehrenamtlich in den dörflichen Vereinen, stiftete tonnenweise Kuchen für diverse Veranstaltungen im Dorf, behandelte das eine oder andere Wildtier ohne Bezahlung und hatte für
jeden Mitmenschen ein offenes Ohr.
Florian, ihren Mann, der als Tierpfleger im zweieinhalb Kilometer entfernten Bodensee-Zoo arbeitete, bekam man dagegen so gut wie nie zu Gesicht. Simon gab nichts auf Tratsch, doch man munkelte
im Dorf hinter vorgehaltener Hand, die Veterinärin würde artfremde Lebewesen besser behandeln als den eigenen Mann. Seitdem Simons Frau gestorben war, hatte es sich die energische Mittdreißigerin
jedenfalls zur Aufgabe gemacht, nach ihrem Nachbarn zu sehen, wie sie es auszudrücken pflegte. Da brachte sie mal ein Gläschen Marmelade vom Wochenmarkt aus Überlingen vorbei, hier mal eine
Frischhaltedose mit Eintopf, weil bei ihr angeblich einiges übrig war. Manchmal lehnte sie sich einfach über die niedere Ligusterhecke und erkundigte sich, wie es ihm ging. Daggi Wolf ignorierte
seine Einsilbigkeit dabei stets, und Simon Kralke wünschte sich insgeheim, sie würde das alles sein lassen. Es geradeheraus sagen und sie somit direkt vor den Kopf stoßen wollte er aber eben doch
nicht.
Gegen Mittagessenszeit, wenn auch der letzte Halm Unkraut zwischen den Gemüsepflanzen ausgerissen war, legte sich Simon meist ein wenig aufs Ohr. Je nach Witterung drinnen auf dem Sofa oder im
Liegestuhl auf der Terrasse. Anschließend gönnte er sich einen weiteren Pott starken Kaffee und aß trockene Kekse vom Discounter.
Deisendorf verfügte seit Ewigkeiten über keinen eigenen Lebensmittelladen mehr. Die Zeiten von Tante-Emma-Läden war unwiderruflich vorbei und der mobile Einkaufswagen, der vor Jahren zweimal die
Woche das Dorf angefahren hatte, hatte seinen Dienst längst als unrentabel erachtet und eingestellt. Ohne Auto war man hier im Ländlichen übel dran. Die Bustaktung ließ zu wünschen übrig und
teurer wurden die öffentlichen Verkehrsmittel ebenfalls von Jahr zu Jahr. Zudem gehörte Simon nicht der Generation an, die Lebensmittel im Internet bestellte. Wenn er eines Tages nicht mehr
fahrtüchtig sein würde, müsste er ins Altersheim übersiedeln. Wenn er Glück hatte, traf ihn vielleicht der Blitz, bevor es so weit war.
Die Vorstellung, seiner Marga in Jenseits zu folgen, barg etwas zutiefst Tröstliches.
Simon Kralke schlürfte nach seinem Mittagsschläfchen den letzten Rest Kaffee aus dem Becher und blickte in die dunklen Krümel, die sich am Tassengrund gesammelt hatten. Er tunkte die Kekse
inzwischen gerne mal ein, nur der sich bildende Bodensatz ließ sich miserabel aus der Tasse schütten. Er nahm kurzerhand den Löffel und kratzte die süßen Keksreste aus dem Porzellan. Anschließend
erhob er sich, lief in den winzigen Schuppen, der sich an die Hauswand anlehnte, und griff sich seine Hacke.
Beinahe zwei Stunden lockerte der Senior unermüdlich den Erdboden zwischen den Pflanzen, scharf bewacht von einem Rotkehlchen, das durch die Erdreich aufwühlende Arbeit von dem einen oder anderen
Leckerbissen profitierte. Simon bedauerte, dass sein Gehör nicht mehr in der Lage war, die zarten Piepstöne des goldigen Tierchens neben sich wahrzunehmen. Doch allein der Anblick des hübschen
rötlichen Gefieders entschädigte für das Ungehörte. Ab und an stieß seine Hacke klirrend auf einen Stein, den er akribisch heraus sammelte und zu den anderen am Beetrain auf einen Haufen
schichtete.
Endlich müde geworden, lehnte Simon schließlich das Gartengerät an den Stamm eines mannshohen Feigenbaums, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte befriedigt auf sein Arbeitsergebnis.
Er konnte es für heute gut sein lassen, dachte er mit sich zufrieden. Es war Zeit, Feierabend zu machen und sich einen ordentlichen Schluck kühles Bier zu gönnen.
Der Rentner zog den ausgeleierten Hosenbund zurecht und schlurfte ins Haus zurück. In der Küche stapelte Simon einen Teller, Besteck, ein einfaches Trinkglas, eine Bierflasche mitsamt Öffner,
Leberwurst, Käse, Essiggurken und abgepackte Brotscheiben auf ein Tablett und trug alles hinaus. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich auf dem Gartenstuhlpolster nieder, goss sich das
schäumende Bier ein und nahm einen beträchtlichen Schluck.
Augenblicklich, angelockt durch den Duft der Speisen, surrten die Fliegen herbei. Eine Wespe mischte sich darunter. Simon biss in sein Leberwurstbrot. Er hatte nicht gespart und den Belag etwa
einen Zentimeter dick darauf gestrichen. Das verschmierte, vom Fett glitschige Messer rutschte ihm aus der Hand, knallte geräuschvoll auf den Teller und kullerte unter den Tisch. Kauend bückte er
sich und hob es auf. Anschließend griff er zum Gurkenglas und stocherte so lange mit der Gabel nach den schlüpfrigen Biestern, bis er sich die größte endlich in den Mund schieben konnte.
Ein wenig Essig tropfte über sein Kinn. Es schmeckte köstlich.
Nebenan, so viel taugte sein Hörvermögen gerade noch, fuhr der Geräuschkulisse nach zu urteilen, einer der Tierarztkunden weg. Die wenigen Autos, die zum Feierabend durch den Andelshofer Weg
Richtung Dorfmitte fuhren, waren kaum der Rede wert. Das Wort Berufsverkehr war in diesem Fall völlig deplatziert, und auch der Traktor, der eben dröhnend vorbei tuckerte, erreichte Simons Gehör
nur vage, denn sein Hörgerät lag, wie so oft, in irgendeiner Schublade herum. Pfiff ja doch meist nur unangenehm, das dämliche Ding.
Hätte Simon Kralke an jenem schicksalhaften Tag sein Hörgerät getragen, wäre er möglicherweise in der Lage gewesen, wahrzunehmen, bevor es zu spät war, was in diesem Augenblick in Form eines
entfesselten Sturms auf ihn herab zu toben begann.
Doch so blitzte lediglich wie aus heiterem Himmel für Bruchteile von Sekunden der blanke Stahl seiner eigenen Gartenhacke in seinem Augenwinkel auf. Wie das Fallbeil eines Scharfrichters sauste
es unheilvoll heran. Dann traf ihn auch schon die Wucht des Schlags und spaltete die erschlaffte Wangenhaut des Vierundsiebzigjährigen in zwei Teile. Ein entsetztes Mmmhhhmpfff entwich seiner
Mundhöhle, aus der ein Stückchen Essiggurke herausfiel, und es krachte, als der Kieferknochen brach.
Erstaunt stellte Simon fest, dass er dies nach innen gerichtete Geräusch selbst ohne Hörgerät wahrzunehmen vermochte, bevor er mitsamt dem Stuhl seitwärts umkippte und zu Boden stürzte. Der Stahl
wurde jäh aus seinem Gesicht herausgerissen, nur um mit unverminderter Heftigkeit erneut auf ihn niederzufahren.
Diesmal traf es seine Stirn.
Rasender Schmerz fuhr durch seinen Körper und bohrte sich auf direktem Weg wie ein glühender Nagel in seine Hirnwindungen. Der nächste Schlag, der sein rechtes Auge zum Ziel hatte, erreichte
seine Sinne glücklicherweise nicht mehr, denn die Ohnmacht senkte sich erlösend über ihn.
Die mörderische Wut, die sich Bahn brach, tobte indes hemmungslos weiter, raste wie in einer dramatischen Komposition von Sergej Rachmaninow opulent und leidenschaftlich über Simon Kralkes Leib
hinweg, so lange, bis der Eschenstiel der Gartenhacke glitschig war vom hochspritzenden Blut. Und doch verursachte die Gewaltorgie kaum Lärm. Zumindest nicht viel mehr, als wenn die Hacke das
ausgetrocknete Erdreich durchfurcht hätte. Stattdessen hatte sie Simons Körper mit Furchen überzogen, und gierige Fliegen stürzten sich scharenweise auf die unverhoffte Gelegenheit zur Eiablage.
Einige der fliegenden Insekten vergnügten sich jedoch lieber mit den Leberwurstresten auf dem Tisch, zufrieden, dass ihnen niemand mehr mit einer Klatsche nach dem Leben trachtete.
Unvermittelt stoppte der Angriff.
Die blindwütige Raserei zog sich weit zurück in den verborgenen Winkel der Seele, aus der sie herausgeschossen war, und hinterließ eine gähnende Leere. Ein ultimatives Gefühlsvakuum ähnlich eines
schwarzen Lochs. Die Gartenhacke wurde akkurat an die Hauswand gelehnt, und gedämpft war das Tuckern des sich immer weiter entfernenden Traktors zu hören.
Blut sickerte lautlos durch unzählige Wunden aus dem reglos daliegenden Körper von Simon Kralke, als wäre der Rentner ein Sieb mit hundert Löchern.
- Die Fortsetzung finden Sie im Buch/E-Book "Lauter Tod".
© Karina Abrolatis – alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage, Erstveröffentlichung 06/24
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